Marie Antoinette: Bildnis eines mittleren Charakters by Stefan Zweig

Marie Antoinette: Bildnis eines mittleren Charakters by Stefan Zweig

Autor:Stefan Zweig [Stefan Zweig]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2011-12-16T23:00:00+00:00


Aber weiter und mehr! Es gibt neben diesem geretteten Brief auch im Leben Fersens eine Szene, die charakterologisch entscheidend wirkt. Sie spielt sechs Jahre nach dem Tode der Königin. Fersen soll auf dem Kongreß von Rastatt die schwedische Regierung vertreten. Da erklärt Bonaparte brüsk dem Baron Edelsheim, er verhandle nicht mit Fersen, dessen royalistische Gesinnung er kenne und der überdies mit der Königin geschlafen habe. Er sagt nicht: in Beziehungen gestanden sei. Sondern er sagt herausfordernd das beinahe unflätige Wort »mit der Königin geschlafen habe«. Baron Edelsheim fällt es nicht ein, Fersen zu verteidigen; auch ihm scheint die Tatsache völlig selbstverständlich. So antwortet er nur lachend, er habe geglaubt, diese Geschichten aus dem »ancien régime« seien längst abgetan, das habe doch nichts mit Politik zu schaffen. Und dann geht er hin und erzählt Fersen die ganze Unterhaltung. Und Fersen, was tut er? Oder vielmehr, was müßte er tun, wenn das Wort Bonapartes eine Unwahrheit gewesen wäre? Müßte er nicht die tote Königin sofort gegen die Beschuldigung (falls sie eine ungerechte wäre) verteidigen? Nicht aufschreien: Verleumdung? Nicht diesen neugebackenen kleinen korsischen General, der für seine Anschuldigung noch das grobsachlichste Wort wählt, sofort vor die Klinge fordern? Darf ein ehrenhafter, aufrechter Charakter eine Frau beschuldigen lassen, seine Geliebte gewesen zu sein, wenn sie es nicht wirklich war? Jetzt oder nie hat Fersen Gelegenheit und sogar die Pflicht, eine Behauptung, die längst heimlich umgeht, mit der blanken Klinge niederzuschlagen, ein für allemal das Gerücht zu zerstreuen.

Aber was tut Fersen? O weh, er schweigt. Er nimmt die Feder und trägt die ganze Unterhaltung Edelheims mit Bonaparte einschließlich der Anschuldigung, daß er mit der Königin »geschlafen« habe, säuberlich in sein Tagebuch ein. Mit keinem Wort entkräftet er selbst in der tiefsten Intimität mit sich selbst die Behauptung, die nach der Meinung seiner Biographen »infame und zynische« Beschuldigung. Er senkt den Kopf und sagt damit: ja. Als einige Tage später die englischen Gazetten sich über diesen Zwischenfall verbreiten und »dabei über ihn und die unglückliche Königin sprachen«, fügt er bei »ce qui me choqua«, zu deutsch »was mir ärgerlich war«. Das ist Fersens ganzer Protest oder vielmehr Nichtprotest. Abermals sagt ein Schweigen mehr als alle Worte.



Download



Haftungsausschluss:
Diese Site speichert keine Dateien auf ihrem Server. Wir indizieren und verlinken nur                                                  Inhalte von anderen Websites zur Verfügung gestellt. Wenden Sie sich an die Inhaltsanbieter, um etwaige urheberrechtlich geschützte Inhalte zu entfernen, und senden Sie uns eine E-Mail. Wir werden die entsprechenden Links oder Inhalte umgehend entfernen.